Orphan Drugs –
Arzneimittel für seltene Erkrankungen
Nutzenbewertung von Orphan Drugs
Die Nutzenbewertung von orphan drugs nach AMNOG folgt grundsätzlich dem gleichen Verfahren wie die Bewertung klassischer patentgeschützter Arzneimitteln. Das heißt, nach der europäischen Zulassung können orphan drugs in Deutschland ohne Einschränkung in Verkehr gebracht werden, es findet eine Nutzenbewertung basierend auf dem eingereichten AMNOG Dossier innerhalb von 6 Monaten statt, anschließend folgen Preisverhandlungen mit dem GKV Spitzenverband, die wiederum 6 Monate in Anspruch nehmen. Nach 12 Monaten tritt ein neuer, verhandelter Erstattungsbetrag in Kraft. Auch für orphan drugs gilt das Prinzip der freien Preisbildung beim Markteintritt.
Orphan drugs genießen zusätzlich eine Sonderstellung in der deutschen Nutzenbewertung, die sich aus der Zulassung herleitet, da mit orphan drug Status gleichzeitig ein (fiktiver) Zusatznutzen für die Patienten verbunden ist. Da orphan drugs bereits mit der Zulassung einen Zusatznutzen aufweisen, wird in der frühen Nutzenbewertung nur noch das Ausmaß des Zusatznutzens bewertet. Die Bewertung des Ausmaßes des Zusatznutzens erfolgt unmittelbar durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), das IQWiG bewertet nur die Anzahl der Patienten und die Kosten entsprechend dem Modul 3 des AMNOG Dossiers.
Im Unterschied zu klassischen Arzneimitteln besteht bei orphan drugs nicht die Notwendigkeit, eine zweckmäßige Vergleichstherapie zu definieren anhand derer das Ausmaß des Zusatznutzens bestimmt wird. Für die Nutzenbewertung werden die Studiendaten herangezogen, die für die Zulassung relevant waren. Dies ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass im Falle von seltenen Erkrankungen häufig keine zweckmäßige Vergleichstherapie in der zugelassenen Indikation existiert.
Allerdings gibt es Ausnahmen von der Ausnahme: übersteigt der Umsatz eines Arzneimittels für eine seltene Erkrankung den Betrag von 50 Mio. Euro innerhalb eines Jahres im ambulanten Bereich, so wird eine klassische Nutzenbewertung initiiert, die sich an den Kriterien für innovative Arzneimittel, insbesondere im Vergleich zu einer zweckmäßigen Vergleichstherapie orientiert. Bei einem Umsatzvolumen von mehr als 50 Mio. Euro wird also eine erneute Nutzenbewertung durchgeführt, die auch zu neuen Preisverhandlungen führt.
Das Ausmaß des Zusatznutzens von orphan drugs wird nach den Kategorien erheblich, beträchtlich, gering und nicht quantifizierbar bewertet. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die meisten orphan Arzneimittel in die Kategorie „nicht quantifizierbar“ fallen. Damit wird letztlich zum Ausdruck gebracht, dass die Datenlage in vielen Fällen nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin nicht ausreicht, um das Ausmaß des Zusatznutzens beschreiben zu können.
Preisverhandlungen von Orphan Drugs
Preisverhandlungen zum Erstattungsbetrag von orphan drugs sind weit weniger kalkulierbar als Preisverhandlungen zu klassischen Arzneimitteln. Die Systematik der Preisverhandlungen mit dem GKV Spitzenverband orientieren sich an § 130b SGB V und den Vorgaben der Rahmenvereinbarung, die zwischen dem GKV Spitzenverband und den Industrieverbänden abgeschlossen worden ist. Die Rahmenvereinbarung geht davon aus, dass der Zusatznutzen als Aufschlag auf die zweckmäßige Vergleichstherapie zu einem Erstattungsbetrag führt. Zudem kommen als Faktoren der Preisbildung die Preise vergleichbarer Arzneimittel im Anwendungsgebiet und die Europäischen Referenzpreise und -mengen hinzu. Da bei orphan drugs im Allgemeinen weder eine zweckmäßige Vergleichstherapie existiert noch vergleichbare Arzneimittel im Anwendungsgebiet, kann der Erstattungsbetrag letztlich nicht als Aufschlagsmodell in Abhängigkeit des Zusatznutzens konzipiert werden. Da Deutschland häufig eines der ersten Länder in Europa darstellt, in dem ein Erstattungsbetrag vorliegt, unterliegen die europäischen Referenzpreise ebenfalls Einschränkungen.
Damit fehlt bei orphan drugs häufig ein Referenzwert, der eine preisliche Bewertung des Zusatznutzens ermöglicht. Die Preisverhandlungen zu orphan drugs sind insofern stärker durch weiche Verhandlungsfaktoren und Perzeptionen beeinflusst. Es lässt sich allenfalls ein Zusammenhang zwischen der Prävalenz und dem Preis bzw. Erstattungsbetrag empirisch feststellen.